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ährend das alte, aber noch intakte Boot den Fluss hinunterfuhr, beratschlagten die beiden Jungen.»Wenn wir einen Haken und eine Sehne hätten, könnten wir einen Fisch fangen«, überlegte Ian laut. »Einen großen.«
»Und was sollten wir mit dem machen?«, fragte Trix. »Wie was? Der kriegt eins mit dem Ruder über, wir nehmen ihn aus und essen ihn. Mit Salz kannst du Fisch auch roh essen.«
»Hast du ein Messer?«
»Nein. Und Salz auch nicht.«
»Und einen Haken und eine Sehne auch nicht. Wir
»Weißt du denn gar nichts?«, fragte Ian verwundert. »In Garküchen, Schenken oder Tavernen. Dann gibt es noch die Gasthäuser, aber die sind nur für Adlige.«
»Ich bin von Adel!«
»Oh, verzeiht, das hatte ich völlig vergessen«, höhnte Ian. »Dann
werden wir selbstverständlich in einen Wirtshof gehen!«
»Wie viel Geld hast du?«, fragte Trix.
Da Ian sich mit der Antwort Zeit ließ, gab Trix ihm einen sanften
Tritt. »Drei Silberlinge«, antwortete Ian. »Die reichen eine
Weile.«
»Genau wie ich. Ich hab auch drei Silberlinge«, sagte Trix. Den
Beutel von Gris verschwieg er lieber. »Habt ihr das Geld zusammen
mit den Kleidern bekommen?«
»Das war in den Hosentaschen! Stell dir mal vor, die haben nicht
mal die Taschen kontrolliert, die Blödmänner!« Trix seufzte. Herzog
Gris hatte wirklich nicht gegeizt.
»Lass mal was über die Ahnen der Co-Herzöge Solier und Gris hören«,
sagte er.
»Weshalb sollte ich!«, sagte Ian verschlagen. »Wo du doch selbst
ein Solier bist!«
»Und du solltest etwas von den Ahnen wissen – wenn du schon Knappe
eines Soliers sein willst!«
»Im Jahr siebenhundertundfünf kam eine Karawane aus dem Fürstentum
Dillon an den Oberlauf des Flusses Fern in den Grauen Bergen. Sie
wurde von dem reichen Kaufmann Kron Gris angeführt, Hauptmann der
Wache war Sei Solier. Und obwohl es in den Grauen Bergen kein Gold
gab, gefiel ihnen das Land und sie gründeten das Co-Herzogtum
Solier und Gris.«
Die Gründung erfolgte in Wahrheit, wie Trix wusste, erst knapp ein
halbes Jahrhundert später und ging auf den Sohn von Sei Solier und
die Tochter von Kron Gris zurück. Der König verlieh schließlich
nicht jedem dahergelaufenen Abenteurer einen Titel! Aber nachdem
beide Familien ihm lange genug Steuern gezahlt hatten und seinen
Truppen zweimal zu Hilfe gekommen waren …
»Weiter«, befahl Trix. Etwas über seine Verwandten zu wissen (und
alle Adligen sind miteinander verwandt) ist nicht nur ein Gebot der
Höflichkeit, sondern auch ausgesprochen nützlich. Wen kann man
richtig kränken, indem man ihm bei einer Feier nur Fisch vorsetzt?
Wem schmeichelt man am besten, indem man an das einzige Turnier
erinnert, das er je gewonnen hat? Trix kannte sich da bestens aus,
denn er hatte nicht nur dem Chronisten gelauscht, sondern auch
viele alte Chroniken gelesen. Und sein Knappe sollte ihm keine
allzu große Schande machen. »Und was weißt du über den Dritten
Großen Krieg?«
Gegen fünf Uhr Nachmittag sahen sie das Schloss. Trix stellte sich
an den Bug und schirmte die Augen mit der Hand gegen die grelle
Sonne ab. Das Schloss war recht klein, die Mauern nur auf der
Landseite hoch, am Ufer aber niedrig. Immerhin wiesen sie etliche
Schießscharten auf. Über dem Hauptturm flatterte eine Fahne: zwei
goldene Fische auf blauem Grund.
»Und, wem gehört das Schloss?«, fragte Ian.
»Thor Galan, dem Fischerbaron«, antwortete Trix. »Auf besonderen
Befehl von Fürst Dillon dem Belehrenden wurden die Mauern des
Schlosses auf der Flussseite um drei Viertel abgetragen. Damit sie
nicht höher sind als die Masten der fürstlichen Schiffe
…«
Ian schnaubte abfällig.
»Gehen wir an Land!«, entschied Trix. »Der Fischerbaron ist ein
guter Mann, das sagen alle. Ruder zum Ufer!«
»Was glaubst du, was ich hier mache?!«, brummte Ian. »Meine Hände
sind schon ganz wund!«
»Ein Ritter hat seinem Souverän nicht zu widersprechen! Ja, er darf
nicht einmal durch einen schmerzlichen Gesichtsausdruck verraten,
wie sehr er sich abmüht.« Trix inspizierte seine Kleidung: Eine
Jacke ohne Knöpfe, zerrissene Hosen … »Zieh deine Hosen
aus!«
»Was?«
»Ich muss würdevoll aussehen. Und deine Hosen sind
sauberer.«
»Soll ich etwa mit nacktem Hintern zum Schloss?«
»Zieh sie aus, du kannst meine haben!«
Als die beiden die Hosen tauschten, wäre das Boot beinahe am
Schloss vorbeigefahren. Notgedrungen musste Trix selbst zum Ruder
greifen. Zu zweit schafften sie es dann aber zu dem langen,
hölzernen Steg.
An Land war es fürchterlich heiß, denn der Fluss sorgte nicht für
Abkühlung, sondern brachte nur schwüle Luft. Unter einem Reetdach
saßen ein paar Wachposten und beobachteten gelangweilt die Jungen.
Niemand rührte sich, weder um sie zu begrüßen noch um sie
fortzujagen.
Trix und Ian kletterten auf die dunkel-nassen Holzplanken. Ian
machte sich daran, das Boot zu vertäuen.
»He!«, rief einer der Männer, ein junger Kerl, der sich nun erhob
und angetrottet kam. »Was fällt euch ein! Das kostet zwei
Kupferlinge!«
Ian hielt in der Bewegung inne und linste zu Trix
hinüber.
»Wofür das?«, empörte sich Trix. »Laut Befehl Seiner Majestät des
Königs Marcel ist das Land zwei Schritt hinterm Ufer königliches
Eigentum! Und jeder ehrliche Bewohner darf anlegen, wo er
will!«
»Bist ja ein echter Professor!«, lachte der Mann. »Seht euch doch
mal das gelehrte Pack von heute an, Leute!«
»Der Knüppel ist für die noch zu wenig!«, brummte ein
anderer.
»Anlegen«, sagte der erste Mann nun in ernstem Ton, »ist erlaubt.
Da hast du recht, Junge. Aber der Steg ist das persönliche Eigentum
von Baron Galan. Wenn du dein Boot daran festbindest, kostet das
zwei Kupferlinge pro Tag.«
»Aber ihr könnt das Boot natürlich umsonst auf dem Wasser treiben
lassen!«, fügte sein Kamerad hämisch hinzu.
Trix kramte in der Tasche und holte einen Silberling
heraus.
Die Männer sagten kein Wort.
»Das Wechselgeld«, verlangte Trix.
»Das …«, stammelte der Mann. »Hast du es nicht anders?«
Trix holte ein Goldstück heraus.
Drei weitere Wachposten kamen zum Boot herunter. In ihren Augen
funkelte Gier, aber auch Angst. Was waren das für Jungen, die ein
Goldstück in der Tasche trugen? Ob man denen besser keine
Schwierigkeiten machte?
»Vertäu das Boot! Aber ordentlich!«, verlangte Trix, während er dem
Mann die Münze vor die Füße schnippte. »Und du«, er wandte sich dem
nächstbesten Posten zu, »du bringst uns jetzt zum edlen Thor
Galan.«
Jetzt musterten die Männer die beiden Jungen mit furchtsamem Blick.
Ihnen war endlich aufgefallen, dass Trix wie ein Adliger sprach und
seine Kleidung wenn auch schmutzig, so doch aus kostbarem Stoff
war.
»Wir bitten um Vergebung«, sagte der Mann, als er die Münze aufhob
und Trix zurückgab. »Die Gäste des Barons müssen selbstverständlich
nicht bezahlen. Wen soll ich melden?«
»Trix Solier, Erbe des Co-Herzogs Solier«, antwortete Trix. »Mit
seinem treuen Knappen Ian, Chevalier des Ruders.«
Der Soldat machte große Augen. Anscheinend waren die Gerüchte
bereits bis hierher vorgedrungen.
»Wir bitten um Vergebung, Eure Co-Erlaucht«, sagte er.
»Ihr werdet unverzüglich gemeldet. He, Hamster, mach dem Herrn
Baron Meldung! Rasch!«
Ein rundlicher Mann erhob sich und trabte, mit den bronzenen
Brustplatten seines Sommerpanzers klappernd, zum Schloss. Die
anderen nahmen Haltung an.
»Wollt Ihr vielleicht …«, setzte der Anführer an, »eine
Erfrischung? Ein Bier?«
Na, schoss es Trix durch den Kopf, der wird bestimmt nicht lange
bei der Wache bleiben. Der wird gar nicht so schnell gucken können,
wie er Karriere als Lakai macht. Nach einem kurzen Blick auf den
ungebrannten Tonkrug, der im Schatten unter dem Reetdach lockte,
antwortete Trix würdevoll: »Solange die Trauer über meine edlen
Eltern noch frisch ist, vermag ich mich nicht den Freuden des
Lebens zu überlassen.«
An den Gesichtern der Soldaten konnte er ablesen, dass seine Worte
den nötigen Eindruck machten. Ließ sich das noch steigern?
Vielleicht, indem er von seiner heroischen Flucht aus der
Gefangenschaft erzählte? Aber Flucht ist kein sonderlich
heldenhaftes Verhalten, außerdem war er nicht geflohen. Überhaupt
wäre es einfachen Soldaten gegenüber zu viel der Ehre
gewesen.
Zum Glück war Galans Schloss wirklich nicht sehr groß. Der
rundliche Soldat kehrte bereits zurück, wobei er wild mit den Armen
fuchtelte. Etwa zehn Schritt von ihnen entfernt wurde er langsamer,
atmete durch und verkündete feierlich: »Auf Befehl Seiner
Durchlaucht, dem hochwohlgeborenen Baron Galan …«
Ian hielt sich, wie es sich für einen anständigen Knappen gehört,
hinter Trix – der aber dennoch spürte, dass sein neuer Freund am
liebsten zurück ins Boot gesprungen wäre.
»… sind Seiner Co-Durchlaucht Trix sowie dem Knappen Ian
Gastfreundschaft und Erholung innerhalb der Schlossmauern
anzubieten!« Nachdem er Luft geholt hatte, ergänzte er: »Ich habe
Befehl, Euch mit aller Höflichkeit in das große Gästezimmer zu
eskortieren und Euch ein Bad zu richten. Der Baron erwartet Euch
zum Abendessen.«
Bis auf das Wort »eskortieren« gefiel Trix, was er gehört hatte. In
Chroniken wurde man nämlich allzu oft ins Gefängnis oder aufs
Schafott eskortiert.
Mit aller Höflichkeit, versteht sich.
Ian stapfte von der Wand mit dem Fenster zur Wand mit der Tür.
»Pah!«, rief er. »Acht Schritt! Wie sieht denn bei denen das kleine
Gästezimmer aus, wenn das hier das große ist?«
»Das ist noch kleiner«, versicherte Trix. »Das hier ist das große,
ganz bestimmt. Vor drei Jahren, als der alte Baron Dillon noch
lebte, waren wir einmal zu einem abendlichen Gelage hier. Oder war
es vor vier Jahren?«
»Und da musstet ihr euch alle in dieses Zimmer quetschen?«, fragte
Ian ungläubig.
»So viele waren wir ja nicht. Meine Eltern haben in dem Bett
geschlafen, ich auf der Bank vorm Fenster.«
Ian warf einen zweifelnden Blick auf die Bank.
»Damals war ich doch noch kleiner, du Holzkopf. Der Hauptmann der
Wache hat an der Tür geschlafen, die Dienerschaft im kleinen
Gästezimmer. Das Gesinde im Hof und im Stall …«
Jemand klopfte an die Tür, wartete mit dem Öffnen aber nicht, bis
er dazu aufgefordert wurde. Zwei kräftige Lakaien in ausgeblichenen
Livreen – erhabenes Gelb auf edlem Blau, die Farben des Barons –
kamen herein. Sie schleppten einen gewaltigen Holzzuber mit heißem
Wasser. Ihnen folgte eine strenge, nicht mehr junge Frau, die zwei
Leinentücher und eine Schale mit Kräuterseife brachte.
Dass man ihnen die gebührende Ehre erwies, ließ Trix Mut
fassen.
Sobald die Diener das Zimmer wieder verlassen hatten, zog er sich
aus und stieg in den Zuber.
»Und ich?«, fragte Ian beleidigt.
»Du hast doch heute schon gebadet. Oder hast du das vergessen? Und
überhaupt wäscht sich ein Knappe immer erst nach seinem
Herrn.«
Ian nuschelte etwas davon, dass er sich, gerade weil er heute schon
gebadet habe, als Erster waschen müsse, setzte sich ans Fenster und
schaute in den Schlosshof hinaus.
Trix wusch sich und seifte sich mit besonderer Freude den Kopf ein.
Obwohl er es für die Aufgabe des Knappen hielt, dem Herrn den
Schaum abzuspülen, verzichtete er darauf, Ian einen entsprechenden
Befehl zu erteilen, und griff selbst nach der Kanne. Letztlich war
Ian ein unerfahrener Knappe, niederer Herkunft und deshalb von
Natur aus aufsässig.
Schließlich trocknete er sich mit dem groben, aber sauberen Tuch ab
und zog sich an. »Du kannst dich jetzt waschen, mein treuer
Knappe«, sagte er.
Misstrauisch betrachtete Ian das mit schmutzigem Seifenschaum
bedeckte Wasser. Er tauchte einen Finger in den Zuber, musterte ihn
gründlich und wischte ihn an den Hosen ab. »Werd mich wohl doch
nicht waschen«, erklärte er. »Hab ich ja heute schon hinter mir.
Und sich zweimal am Tag zu waschen, das bringt Unglück.«
»Wie du meinst.« Trix legte es nicht auf einen Streit an, ihm
konnte es nur recht sein, wenn der Knappe schmutziger war als sein
Herr. »Bei dem feierlichen Abendessen zu meinen Ehren stehst du
hinter mir. Wenn ich die rechte Hand hebe, legst du mir die
Serviette hinein. Wenn ich dir den Teller hinhalte, darfst du die
Reste aufessen, bevor du ihn an den Diener weiterreichst. Und
vergiss ja nicht, mir Wein einzuschenken. Der Becher muss immer
voll sein.«
»Verstanden«, sagte Ian traurig.
»Keine Angst«, beruhigte ihn Trix. »Ich esse nur die Hälfte und
gebe dir dann den Teller. Und bevor du Wein nachschenkst, darfst du
den Rest aus dem Becher austrinken. Ich werde sagen, das sei ein
Zeichen meiner besonderen Güte.«
Das hörte sich schon besser an, fand Ian.
Der Fischerbaron hatte sich nicht verändert, seit Trix mit seinen
Eltern im Schloss zu Besuch gewesen war. Nur sein Bauch war noch
runder, sein Gesicht röter, und die Nase überzog ein rotes Netz aus
kleinen Adern. Galan saß auf einem vergoldeten Holzthron. Die
kleine Baronenkrone, ein goldener Reif mit einem einzigen roten
Stein, hatte er gerade abgenommen, um sich den Schweiß von der
Stirn zu wischen.
Der Blick des Barons war noch immer fest, klug und wach. Als er
kurz zu den Jungen, die vor dem Thron standen, hinsah, wusste Trix,
dass er ihn erkannt hatte.
Er hatte ihn erkannt – aber nicht angesprochen.
Der Baron und seine (ebenfalls schweigende) Familie hatten an einem
bescheidenen Tisch Platz genommen, der schon für das Abendessen
gedeckt war. Die Baronin war eine magere Frau mit langer Nase, die
das schwarze Haar zu einem glatten Knoten aufgesteckt hatte. Die
beiden mittleren Kinder, ein Sohn und eine Tochter, waren zehn und
sieben Jahre alt. Die älteren Kinder dienten als Knappen oder Pagen
bei Nachbarbaronen, die jüngeren wurden von den Kinderfrauen
gefüttert und durften nicht mit am Tisch sitzen. Schließlich waren
noch die beiden jüngeren Brüder des Barons anwesend, ebenfalls
dicke Herren, die gern tranken, allerdings aus Mangel an Land und
Geld stets finster dreinblickten. Der Hauptmann der Wache, ein
tapferer Soldat voller Narben, trug eine schlichte Rüstung und
zuckte in einem fort nervös mit dem rechten Lid.
Einen Zauberer hatte der Fischerbaron nicht. Zauberer lebten nicht
gern in den armen Schlössern kleiner Barone. Und das Schloss war
arm. Die eingestaubten Mosaikfenster ließen kaum Licht durch, vom
Thron blätterte das feine Blattgold ab, die Teppiche am Boden waren
zerschlissen, in den Kerzenhaltern brannte nur je eine Kerze, noch
dazu eine aus Talg, nicht aus Wachs.
Thor Galan ließ sich Zeit. Er befeuchtete sich die Lippen und
schielte zu seiner Frau hinüber. Er hob den Blick an die verrußte
Decke, anschließend starrte er auf die Spitzen seiner
Schuhe.
Trix wartete. Entweder würde Galan ihn anerkennen oder als
Usurpator anklagen. Oder nein: Wenn er ihn nicht anerkannte, würde
er, Trix, die Peitsche zu spüren kriegen.
Plötzlich lächelte der Fischerbaron, sein Gesicht erstrahlte – und
es wurde sofort klar, warum er der »gute Baron« hieß.
»Trix! Trix Solier, mein Junge! Du lebst!«
Trix seufzte erleichtert und bemerkte erst jetzt, dass seine Hände
feucht von Schweiß waren.
Der Baron erhob sich. »Und wer ist das?«
»Der getreue Knappe Ian«, antwortete Trix.
»Was für ein würdiger Knappe!«, sagte der Baron. »Er lässt seinen
Herrn nicht im Stich. Das ist ein ruhmreiches Verhalten, das auch
einem erwachsenen Manne von adligem Blut gut zu Gesicht stünde …
Kommt her, meine Kinder!«
Trix und Ian traten vor den Baron. Dieser schloss sie in die Arme
und gab jedem von ihnen einen Kuss. Der Baron roch nach Wein,
Knoblauch und Hundezwinger.
»Wir wollen die Rettung des edlen Trix feiern!«, verkündete der
Baron. »Kerzen! Wein! Noch ein Huhn und einen Teller!«
Trix sah Ian triumphierend an und zwinkerte ihm zu.
»Wir werden sehen, wie wir dir helfen können«, sagte Galan und
kniff Ian in die Wange. »Wie du gewachsen bist, du Lauselümmel!
Aber ich erkenne das edle Blut der Solier!«
»Eure Durchlaucht!«, sagte Trix empört. »Baron …«
Die kräftigen Finger des Barons legten sich ihm sanft in den
Nacken.
»Danke mir nicht, treuer Knappe«, sagte der Baron lächelnd. »Ich
werde alles tun, um deinem Herrn zu helfen.«
Ian warf Trix einen verzweifelten Blick zu.
»Dir hat’s wohl die Sprache verschlagen, was, Trix«, wandte sich
der Baron an Ian, wobei er die Finger nicht vom Nacken des echten
Trix nahm. »Nur nicht so schüchtern!«
»Ich bin Eurer Durchlaucht für die versprochene Hilfe dankbar«,
murmelte Ian. Er linste zu Trix hinüber. »Aber …«
»Wein für den edlen Trix!«, brüllte der Baron und knuffte
Ian.
Der brachte schon wieder kein Wort heraus. Trix war ohnehin
sprachlos. Der Baron konnte sie doch nicht verwechseln! Nicht,
nachdem er ihn so angesehen hatte!
»Nachher«, flüsterte ihm der Baron ins Ohr. »Nach dem Essen reden
wir über alles!«
Er schickte die Jungen ans Ende des Tischs. Wie im Traum stellte
sich Trix hinter Ian. Der Diener drückte Ian einen Becher mit Wein
in die Hand und stellte einen Holzteller mit Brathähnchen vor ihn.
Ian drehte sich zu Trix um. »Das wollte ich nicht!«, flüsterte er
mit panischer Stimme. »Das ist nicht meine Schuld!«
Trix hatte die Sache inzwischen jedoch durchschaut. Der vorsichtige
Galan traute nicht mal seinen eigenen Leuten über den Weg und
wollte ihn, Trix, vor einem Meuchelmörder schützen! Deshalb musste
Ian sich für seinen Herrn ausgeben, deshalb musste Trix ihn bei
Tisch bedienen. Genau wie in der Geschichte mit Granis, dem Ritter
von Strick und Stock, dem die Ehre zuteilgeworden war, Dekaran dem
Weisen als Knappe zu dienen und an seiner Stelle den qualvollen Tod
durch vier Pferde zu erdulden: einen Rotschimmel, einen Rappen,
einen Schecken und einen Goldfuchs. Danach hatte Dekaran, der
derweil den Knappen gespielt hatte, die Gebeine von Granis in sein
Stammschloss bringen lassen, seinen Vasallen von gar wundersamer
Rettung erzählt, eine neue Armee um sich geschart und sich sofort
für den Tod des tapferen Knappen rächen wollen, wenn nicht leider
gerade eine Choleraepidemie ausgebrochen wäre.
»Hier!«, flüsterte Ian und reichte Trix einen halb leeren Becher.
»Willst du auch Huhn?«
Aus seinen Überlegungen gerissen, trank Trix gierig den leichten
Wein. Verstohlen blickte er sich um. Niemand achtete auf sie,
offenbar weil Galan selbst das nicht tat, denn er war voll und ganz
damit beschäftigt, das Maul eines jungen Windhundes, der aus dem
Hundezwinger gebracht worden war, zu inspizieren. Mit dem Gebiss
zufrieden, strahlte er übers ganze Gesicht. Einen zweiten Welpen
würdigte Galan keines Blickes, sondern befahl gleich, ihn den
Förstern zu überlassen – der Baron war nicht ohne Grund für seine
Güte bekannt: Jeder andere hätte befohlen, den Rassehund zu
ertränken, anstatt das Tier den Dienern zu schenken.
»Gib mir die Keule!«, verlangte Trix. »Und Brot! Weißes!«
Falls jemandem auffiel, dass der wie durch ein Wunder gerettete
Co-Herzog seinen Knappen mit allzu guten Happen bedachte, verlor er
kein Wort darüber, sodass Trix seinen Hunger stillen
konnte.
Einmal brachte der Baron einen Toast aus, aber nicht auf Trix oder
seine toten Eltern, sondern »auf die Gerechtigkeit!«. Trix redete
sich zwar ein, der Toast gelte auch seiner Rettung, wurde mit einem
Mal aber ganz traurig. Das Essen zog sich hin, obwohl nach dem Huhn
kein weiterer Gang folgte. Die Kinder wurden irgendwann
hinausgebracht, die Erwachsenen tranken Wein. Trix und Ian schienen
zwischen Kinder und Erwachsene geraten: Niemand jagte sie fort, es
schenkte ihnen aber auch niemand Wein nach. Erst als Ian laut
gähnte, nahm ihn der Baron wieder zur Kenntnis.
»Unsere jungen Gäste sind müde«, erklärte er feierlich. »Ligar,
bring sie ins große Gästezimmer!«
Der Hauptmann der Wache nickte seinem Herrn zu (anscheinend ging es
beim abendlichen Gelage ziemlich locker zu) und drehte sich zu den
Jungen um. Ian sprang erleichtert auf und Trix konnte sich endlich
die Beine vertreten. Stocksteif auf der Stelle zu stehen strengt
nämlich viel mehr an als ein langer Fußmarsch.
»Ich danke Euch, Eure Durchlaucht!« Wein und Essen hatten Ian kühn
gemacht, er spielte die Rolle des CoHerzogs jetzt schon viel
überzeugender. »Vor dem Einschlafen werde ich zum Herrn beten,
damit er Euch für Eure Gastfreundschaft belohnt!«
Trix guckte immer finsterer drein, verlor jedoch kein
Wort.
Ligar, der hinter den Jungen zur Tür ging, murmelte aber: »Gut
gesprochen – für eine Waise von niederem Stand.«
Daraufhin sah Trix Ligar verstohlen an. Sie hatten den Bankettsaal
bereits verlassen und gingen einen dunklen Gang hinunter. Das
Mondlicht, das durch die schmalen Fenster und Schießscharten fiel,
sorgte dafür, dass sie nirgends anstießen. Um richtig gut sehen zu
können, hätten sie eine Kerze gebraucht, aber die Diener des Barons
waren offenbar daran gewöhnt, ohne diesen Luxus
auszukommen.
Das feuchte Schilfrohr, mit dem der Fußboden ausgelegt war, gab
schmatzende Geräusche von sich. Nach Trix’ Dafürhalten hätte es
längst ausgetauscht werden müssen. Was ja wohl auch kein Problem
sein dürfte, bei einem Schloss direkt am Fluss! Aber entweder
sparte der Baron sogar am Ried, oder es war ihm völlig egal, was
unter seinen Füßen lag: frisches grünes Schilf oder ein Brei aus
Dreck und faulem Holz.
»Ihr habt mich also erkannt, Hauptmann?«, fragte Trix.
»Als der Co-Herzog Solier mit seiner Familie unser Schloss beehrte,
war ich die rechte Hand des damaligen Hauptmanns«, antwortete Ligar
ausweichend.
»Hat der Baron … mich Knappe genannt, um mich zu
schützen?«
»Kann sein.« Ligar runzelte das narbenreiche Gesicht. »Der Baron
ist klug. Viel klüger, als seine Nachbarn glauben.« Er verstummte,
offenbar wollte er sich nicht verplappern. Als sie das Gästezimmer
erreicht hatten, fügte er allerdings hinzu: »Und viel ärmer. Fünf
Jahre schon haben wir nichts als Pech. Räuber kommen aus den Bergen
und rauben die Karawanen aus, denen der Baron Schutz versprochen
hat. Zwei Magier haben bei einem Streit eine Silbermine verschüttet
und einen wertvollen Sandelholzwald abgefackelt. Dann noch Dürre,
Überschwemmung und die königlichen Steuereintreiber! Aber der Baron
ist klug.«
Er schubste die Jungen leicht gegen die Tür und wartete, bis sie im
Zimmer waren und die Riegel von innen vorgelegt hatten. Erst dann
ging er wieder.
Als Erstes tastete Trix auf dem Tisch nach dem
Kerzenhalter und einer geschnitzten Schale mit Schwefelhölzern. So
weit ging die Sparsamkeit des Barons doch nicht, dass seine Gäste
im Dunkeln hocken mussten. Beim dritten Anlauf – die neumodischen
Hölzer brachen ständig, zischten, verglommen und verbreiteten
stinkenden Schwefelrauch, wollten aber auf keinen Fall brennen –
schaffte er es, die Kerzen anzuzünden.
Verärgert blickte er Ian an. »Darf ich mich in Anwesenheit Seiner
Durchlaucht setzen?«
»Was kann ich denn dafür?«, fragte Ian aufgebracht. »Habe ich mich etwa um die Rolle gerissen?! Das haben wir alles dem Baron zu verdanken!«
Dagegen ließ sich schwerlich etwas
sagen.
»Der Erbe des Co-Herzogs bin ich«, erinnerte ihn Trix. »Weißt du,
warum der Baron dich Trix genannt hat? Damit die Meuchelmörder,
falls es solche unter der Dienerschaft gibt, dich töten und ich
davonkomme.«
»Aber ich will nicht ermordet werden!«, jammerte Ian. »Selbst wenn
du dann davonkommst!«
»Hohlkopf! Für seinen Herrn zu sterben ist eine Ehre!«
»Aber Ehre interessiert mich nicht!« Ian ging vorsichtshalber von
der Tür weg.
»Jetzt lässt sich das nicht mehr ändern.« Trix zuckte die Achseln.
Er sah aufs Bett. »Wahrscheinlich sollte ich lieber auf der Bank
schlafen. Und du im Bett. Falls es in der Wand eine geheime Öffnung
gibt, durch die eine Giftnatter ins Bett kriechen kann. Oder in der
Decke ein Loch, durch das man dem Gast geschmolzenes Pech auf den
Kopf gießt. Warum bist du denn so bleich?«
Da klopfte jemand an die Tür, und Ian wechselte prompt die Farbe,
von Weiß zu Rot. »Mach nicht auf!«, flüsterte er. »Trix,
bitte!«
Trix schlich auf Zehenspitzen zur Tür. Er lauschte. »Wer ist da?«,
fragte er leise.
»Thor Galan«, antwortete eine harte Stimme. »Öffne,
Trix!«
Trix sah seinen Knappen an, breitete die Arme aus und schob den
Riegel zurück.
Es war wirklich der Baron. In der einen Hand hielt er einen
Kerzenhalter mit fünf Kerzen, in der anderen eine Flasche. Der
Wein, den er beim Essen getrunken hatte, hatte sein Gesicht
gerötet, trotzdem war Galan erstaunlich munter. Kaum war er im
Zimmer, schloss er die Tür hinter sich, gab Ian den Kerzenhalter
und die Flasche und schloss Trix fest in die Arme. Der keuchte auf.
Gleich darauf hielt der Baron den Jungen ein Stück von sich und sah
ihm ins Gesicht. »Ich erkenne dich«, sagte er. »Ich erkenne den
Adel. Ich bin froh, dass du am Leben bist, mein Junge.«
Trix seufzte erleichtert. Er warf Ian einen stolzen Blick zu und
sagte: »Meine Eltern sind tot. Der gemeine Co-Herzog Gris
…«
»Ich weiß.« Der Baron setzte sich schnaufend an den Tisch. Er
schielte zu Ian hinüber und brummte: »Was stehst du rum, Knappe?
Gieß den Herren Wein ein!«
Ian machte sich hektisch auf die Suche nach Bechern.
»Dein Vater war immer viel zu romantisch, Trix«, fuhr der Baron
fort. »Die Romantik wäre eine wunderbare Eigenschaft, wenn man es
dabei nicht an Wachsamkeit mangeln ließe. Aber deine Mutter hat
mich überrascht. Gift zu trinken, sich einen Dolch in den Leib zu
rammen und aus dem Fenster zu springen! Das nenne ich edles
Blut!«
»Erdolcht hat sie sich auch noch?«, fragte Trix. Ian hatte endlich
zwei Zinnbecher gefunden und goss den beiden Wein ein.
»Also mit dem Dolch, da hat sie sich nur gekratzt.« Galan runzelte
die Stirn. »Aber alle Formalitäten eines Hohen Todes hat sie
beachtet. Drei edle Arten, sich das Leben zu nehmen, durchgeführt
in der richtigen Reihenfolge. Sie hat meinen Respekt. Ich hätte
mich nicht aus dem Fenster gestürzt, ich habe Höhenangst … Also,
Trix, auf deine Gesundheit!«
Sie tranken vom Wein, und selbst Trix mit seiner geringen Erfahrung
fiel auf, dass der Inhalt dieser Flasche wesentlich besser war als
der Wein beim Essen.
»Was gedenkst du jetzt zu tun, junger Mann?« Der Baron wischte sich
über den Bart und sah Trix neugierig an.
»Ich will den Regenten Hass um Hilfe bitten«, sagte Trix. »In
meiner unendlichen Dankbarkeit würde ich Dillon die Grenzgebiete
schenken, um die es so lange Streit gab …«
»Meinst du vielleicht die Gebiete, die der hochverehrte Herzog Gris
heute Morgen Dillon übereignet hat?«, fragte der Baron. »Bei der
Gelegenheit hat er übrigens verlautbaren lassen, allein die
Sturheit des toten Mitherrschers habe ihn daran gehindert, den
Streit schon früher beizulegen.«
Trix’ Miene verfinsterte sich. Trotzig reckte er den Kopf in die
Höhe. »Ich werde schon etwas finden, was ich Dillon anbieten kann!
Es sind edle Menschen, die sich der Willkür widersetzen
werden.«
»Der Regent Hass ist nicht sonderlich edel. Er ist gierig und klug,
aber nicht edel.« Galan nahm einen weiteren Schluck Wein. »Und die
Prinzessin Tiana hat noch nichts zu sagen. Und wenn die
Heiratspläne, die der Regent für sie schmiedet, in Erfüllung gehen,
wird das auch so bleiben.«
Der Baron holte aus der Tasche seines Wamses einen großen grünen
Apfel, rieb ihn am Ärmel ab und teilte ihn demonstrativ in zwei
Teile. Die eine Hälfte gab er Trix, in die andere biss er selbst
hinein.
»Aber was soll ich dann tun?«, fragte Trix.
»Nichts«, antwortete der Baron. »Kein Baron wird es wagen, dir zu
helfen. Dafür ist Hass zu bedeutend. An König Marcel kommst du
nicht ran, abgesehen davon wird er sich nicht über Hass
hinwegsetzen und in kleine Streitereien einmischen.«
»Aber Ihr habt mich doch auch anerkannt!«, sagte Trix. »Baron, alle
wissen, dass Ihr ein kluger Mann seid, man wird Eurem Beispiel
folgen.«
»Ich bin kein Dummkopf, das stimmt«, erwiderte der Baron. »Iss
deinen Apfel, Trix. Du bist es nicht gewöhnt, Wein zu trinken – und
meiner ist stark. Aber ich habe nicht dich anerkannt, sondern
deinen Gefährten. Du bist aus dem Waisenhaus, mein
Junge?«
»Ja«, sagte Ian, der leise an den Tisch herangetreten war. »Ich bin
der Knappe, ich wollte mich nicht für Trix ausgeben.«
»Das wirst du müssen.« Der Baron warf den Apfelrest weg. »Es würde
mich teuer zu stehen kommen, wenn ich dir helfen würde, Trix. Wenn
Gris erfährt, dass ich den echten Erben bei mir aufgenommen habe,
muss ich mich auf einiges gefasst machen. Gegen seine Armee bin ich
machtlos. Vergiss auch die Meuchelmörder nicht oder die Zauberer,
die Unheil wirken. Angeblich steht Gris sogar mit dem Teufel im
Bunde. Deshalb bin ich gut beraten, deinen Gefährten aufzunehmen
und so zu tun, als hielte ich ihn für den echten Trix.«
»Wieso das?«, fragte Trix.
»Wozu hast du eigentlich einen Kopf!« Der Baron schien etwas
ungehalten über Trix’ Begriffsstutzigkeit. »Ein falscher Trix
bedeutet für Gris keine echte Gefahr, ich aber kann ihn mit etwas
Geschick als Trumpf ausspielen, sodass Gris sich auf ein paar
kleine Kompromisse einlassen muss. Wir streiten uns da um einige
Auen …« Der Baron winkte kurz mit der Hand. »Aber das tut nichts
zur Sache. Irgendetwas werde ich schon für mich rausschlagen. Dein
Knappe kann gern ein halbes Jahr bei uns bleiben, von mir aus auch
ein ganzes.«
»Und dann?«, fragte Ian verängstigt.
»Keine Angst!« Der Baron lächelte. »Sobald Gris auf meinen
Vorschlag eingeht, werde ich verkünden, dass du bloß ein lausiger
Herumtreiber bist. Der Form halber wird man dich auspeitschen, aber
ich werde den Folterknecht bitten, es nicht zu übertreiben. Wenn du
danach wiederhergestellt bist, gebe ich dich bei einem guten
Meister in die Lehre. Oder du kommst in meinem Hundezwinger unter.
Magst du Hunde?«
»Sehr.« Ian strahlte.
»Wunderbar«, sagte der Baron. »Dann hätten wir das
geklärt.«
»Und ich?«, jammerte Trix.
»Richtig, was machen wir mit dir«, sagte der Baron. »Glaube mir,
Trix, wenn ich die Möglichkeit hätte, dir zu helfen, würde ich das
tun. Aber die habe ich nicht. Deshalb …«
Trix wartete ängstlich, was nun kommen würde. Ian, der hinter Galan
stand, zuckte ratlos mit den Schultern.
»Deshalb werde ich dir Proviant geben, damit steigt du in dein Boot
und fährst weiter. Am besten nach Dillon. Das ist eine große und
reiche Stadt, wo ein kluger Waisenjunge immer Arbeit findet.
Abgesehen davon werde ich dir einen Empfehlungsbrief mitgeben.
Darin heißt es, du seist der uneheliche Sohn eines Verwandten von
mir. Wer will, kann es sogar so verstehen, dass du mein Neffe bist.
Du kannst lesen und schreiben und noch ein paar andere nützliche
Dinge. Der Brief ist schon in Arbeit. Damit kommst du bei jedem
Kaufmann unter, glaub mir. Der Rest hängt von dir ab. Du verdienst
Geld, steigst als Kompagnon in ein Geschäft ein, fährst zur See,
baust ein Haus, heiratest die Tochter deines Seniorpartners … Am
besten suchst du dir einen verwitweten Kaufmann ohne Söhne, dafür
aber mit hübschen Töchtern. Ich empfehle dir, die jüngste zu
wählen, die werden in der Regel am meisten geliebt und verwöhnt. In
zwanzig, dreißig Jahren bist du so reich, dass du bei mir, dann
einem Greis, jederzeit unaufgefordert hereinplatzen
kannst.«
Die selbstsichere Stimme des Barons hatte auf Trix eine einlullende
Wirkung, fast als verstünde der Mann etwas von Zauberei. Mit
offenem Mund starrte Trix den Baron an. Durch seinen Kopf zogen
wirre Bilder: die Lehre in einem Laden für Kräuter; ein blendend
blauer Himmel in wilden, heißen Ländern; erfolgreiche Geschäfte;
ein einstöckiges Steinhaus mit Garten und einem Wasserbecken; eine
hübsche junge Frau und eine eigene Kutsche …
»Aber was wird dann aus meiner Rache?«, fragte Trix. »Ich will den
Thron meines Vaters zurück! Ich bin kein Kaufmann, ich bin der
Nachfahre kühner Ritter!«
»Ein Ritter, ein Kaufmann – was spielt das für eine Rolle?«, rief
Galan. »Mit einem Sack Gold kannst du mehr Menschen töten als mit
Lanze und Schwert. Gris stammt von Kaufleuten ab und er hat deinen
Vater nach Strich und Faden reingelegt.«
»Aber ich habe geschworen, mich zu rächen!«, knurrte
Trix.
»Und ich habe in meiner Jugend geschworen, Lunida Solier zu
heiraten«, hielt Galan grinsend dagegen. »Ja und? Gleich bringt
dich jemand zum Steg hinunter, setzt dich ins Boot und drückt dir
den Empfehlungsbrief in die Hand. Mir bleibt nichts, als dir eine
gute Reise zu wünschen!«
Trix schwieg.
»Du hältst mich für ungerecht?«, fragte der Baron sanft. »Du naiver
Junge! Ich bin klug, gut und taktvoll. Ein anderer an meiner Stelle
hätte dich im Fluss ertränkt. Oder, wenn er sehr dumm ist, an Gris
ausgeliefert.«
»Warum muss man dafür sehr dumm sein?«, fragte Trix.
»Ich glaube nicht, dass du geflohen bist. Gris hat dich
wahrscheinlich laufen lassen. Bestimmt führt er irgendwas im
Schilde.« Der Baron kniff die Augen zusammen. »Hör mal, du wirst
doch jetzt nicht weinen! Du bist fast erwachsen, du solltest deine
Gefühle beherrschen. Glaubst du, für mich ist das einfach? Aber
heule ich? Eben!«
Jemand klopfte an die Tür. Auf eine Geste des Barons hin öffnete
Ian. Es war die Baronin, die eine versiegelte Schriftrolle in der
Hand hielt. »Ich bin fertig«, sagte sie kalt, ohne die Jungen eines
Blickes zu würdigen. »Für wen sollte ich das schreiben?«
»Für Trix«, sagte der Baron fröhlich. »Für den echten. Der, der den
Knappen mimt.«
»Das Äußere habe ich ohnehin nicht beschrieben«, erklärte die Frau
gleichgültig. Sie reichte dem Baron die Rolle. Mit einem Blick auf
die Flasche murmelte sie: »Trink nicht wie ein Schwein, sonst musst
du bei den Dienern schlafen!«
»Ach ja, die Diener …«, sagte der Baron, sobald die Tür hinter der
Baronin ins Schloss fiel. »Ich bring dich besser selbst zum Boot,
Trix.«
»Nicht einmal über Nacht darf ich bleiben?«, fragte Trix empört.
»Nennt Ihr das vielleicht Gastfreundschaft?«
Seufzend schüttelte der Baron den Kopf. Er gab Trix einen leichten
Klaps in den Nacken. »Er ist ein undankbarer Junge, oder?«, wandte
er sich an Ian. »Trix! Stell meine Geduld nicht auf die Probe!
Komm!«
»Darf ich Trix … ich meine, Ian, mit zum Boot bringen?«, fragte Ian
plötzlich.
Der Baron sah ihn aufmerksam an. »Du bist nicht dumm«, bemerkte er,
während er den Kerzenhalter vom Tisch nahm. »Auf deine Art sogar
ehrlich. Natürlich kannst du mitkommen.«
Der Baron und Trix’ – ehemaliger! – Knappe gingen durch den leeren,
dunklen Gang voraus, er selbst stapfte ihnen nach. Ihm war zum
Heulen zumute. Der Baron dagegen schien bester Laune, summte ein
Lied vor sich hin, wobei er immer wieder Wörter ausließ, die er
durch »pam«, »pam-pam« und »pampampam« ersetzte:
»Retaler, der ruhmreiche Baron, möcht einsammeln die
Kronen/Vasallen und pampampam, diesmal gedenkt er keinen zu
schonen/Die pampam forsch gekratzt, macht er sogleich sich auf die
Reise/Träumt davon, pam oder Lanze zu gebrauchen in zünft’ger
Weise.«
Der Baron ist wirklich taktvoll, dachte Trix. Wenn sein Vater sich
mit seinen Freunden betrank, sparte er beim Lied über den Baron
Retaler kein Wort aus.
Am Pier taten neue Wachposten Dienst, die sich beim Erscheinen des
Barons unverzüglich ins Schloss zurückzogen. Anscheinend war das
vorab besprochen worden. Der Baron ging mit den beiden Jungen zum
Boot, das noch an seinem alten Platz lag. Er wies mit dem Finger
auf den Sack darin. »Proviant«, sagte er.
»Danke, Eure Durchlaucht«, presste Trix heraus.
»Sei mir nicht böse. Wenn du größer bist, wirst du meine Güte zu
schätzen wissen.« Den Baron schien nichts aus der Ruhe zu bringen.
»Nimm diese Schriftrolle und fahre nach Dillon!«
Trix nahm die Rolle an sich und steckte sie unters Hemd. Er maß Ian
mit giftigem Blick, sagte jedoch kein Wort und kletterte ins Boot.
Es war eine Mondnacht, hell und wolkenlos. Wenigstens das Wetter
blieb ihm treu.
»Ich mach das Boot los«, sagte Ian. »Das ist schließlich meine
Pflicht als Knappe.«
In seiner Wut wusste Trix nicht mal, was er seinem ehrlosen
Gefährten darauf antworten sollte. Der Baron lachte aus vollem Hals
und klopfte sich auf die dicken Schenkel. Ian band ungerührt die
Leine los, warf sie ins Boot, holte tief Luft und stieß das Boot
vom Pier ab.
»Du …« Trix wollte ihm zum Abschied noch etwas Gemeines zuschreien,
doch da sprang Ian plötzlich ins Boot, wobei er es fast zum Kentern
gebracht hätte. Trix hielt sich an der Bootswand fest und schrie:
»Was soll das, du Idiot!«
»Ruder!«, flüsterte Ian, der bereits nach den Rudern gegriffen
hatte. »Mit den Händen!«
Als Trix begriff, was Ian vorhatte, legte er los. Jetzt war die
Reihe am Baron, vom Ufer aus zu brüllen: »Ian! Du Taugenichts! Komm
zurück!«
»Das geht nicht, Eure Durchlaucht!«, rief Ian, ohne sich umzudrehen
und mit aller Kraft weiterrudernd. »Ich habe einen Eid geschworen!
Ich bin Knappe!«
Der Baron schnappte nach Luft. Sein Gesicht war gefährlich rot.
Dann brüllte er: »Ist denn die ganze Welt verrückt geworden? Ihr
Kinder seid die Schande eurer Eltern!«
»Ihr werdet einen anderen Trix finden, Eure Durchlaucht«, erwiderte
Ian. »Es sind genug von uns unterwegs, da wird schon einer bei Euch
aufkreuzen.«
Dann achtete er nicht länger auf die Flüche, die Galan ausstieß.
Zum Glück war es am Hofe des Barons wirklich schlecht um Magie
bestellt, denn alle Flüche waren alt, abgenutzt und damit
unschädlich.
»Den sind wir los«, sagte Ian überzeugt, als ihr Boot die Strömung
erreichte. »Nachts ist es zu schwierig, uns zu
verfolgen.«
Trix sah seinen Knappen an. »Warum bist du ins Boot gesprungen?«,
fragte er schließlich.
»Wenn ich mich darauf verlassen könnte, dass der Baron mich in
einem Jahr tatsächlich zu einem Meister in die Lehre gibt, wäre ich
geblieben«, erklärte Ian. »Aber was, wenn er mich dann ertränkt?
Spaßvögel wie ihn kenne ich zur Genüge. Wenn er will, ist er gut,
aber wenn er nicht will, ist er verdammt böse. Überhaupt … bin ich
dein Knappe.«
»Ian!« Trix vergaß prompt, was ihm angetan worden war. »Du … du
bist jetzt mehr als ein Knappe für mich! Du bist mein Freund! Nein!
Mein Blutsbruder! Genau wie der junge Knappe Wolly für den
ruhmreichen Ritter Lam!«
»Wie?«, fragte Ian neugierig.
»Kennst du etwa die Ballade vom jungen Wolly
und dem ruhmreichen Lam nicht?«
»Nein«, antwortete Ian verlegen.
»Das ist eine sehr schöne Ballade, die zu Herzen geht. Ich wollte
über die beiden in den Chroniken nachlesen, aber mein Vater hat
gesagt, das sei zu früh.«
»Gut, lass uns Blutsbrüder werden«, willigte Ian ein. »Aber ich
habe kein Messer. Wir hätten eins vom Tisch des Barons mitnehmen
sollen!«
»Dann erledigen wir das morgen. Auf alle Fälle vielen Dank! Das
wird ihm eine Lehre sein … dem alten Intriganten! Bist du sicher,
dass in dir kein edles Blut fließt?«
»Ja«, antwortete Ian. »Wie gesagt, mein Vater war Gärtner. Meine
Mutter hat ihm geholfen.«
»Aber …«, setzte Trix an, »aber manchmal stellt ein Mensch
überraschend fest, dass er der illegitime Sohn eines Herzogs
ist.«
»Aber ich sehe meinem Vater ähnlich. Also vergiss es! Lass uns
lieber mal nachsehen, was uns der Baron mitgegeben hat!«
»Ich sehe nach und du ruderst!«, entschied Trix. Noch war Ian
schließlich sein Knappe, nicht sein Blutsbruder, also war er für
körperliche Arbeit zuständig.
In dem Sack fand sich wirklich Essen, wenn auch recht einfaches:
zwei gebratene Hühnchen, zwei Laibe Brot, gekochtes Gemüse und eine
Flasche Wein.
»Wunderbar«, sagte Ian. »Und dann haben wir noch den Brief. Zeigst
du ihn mir mal?«
Trix zog das Pergament heraus, die beiden entrollten es und fingen
an zu lesen, obwohl die Buchstaben in der Dunkelheit kaum zu
erkennen waren.
Der Baron hatte nicht gelogen. Man konnte tatsächlich glauben, der
Überbringer sei ein vierzehnjähriger Adliger (obwohl nichts
Konkretes gesagt wurde, hatte man sogar den Eindruck, es sei der
Neffe des Barons). Der Junge könne lesen, schreiben und dergleichen
mehr. Das Siegel war echt und leuchtete ganz zart. Der König,
genauer gesagt seine Zauberer, hatten an alle Vasallen magische
Siegel verteilt. Ein solches Siegel zu fälschen war nicht nur
schwierig, sondern obendrein lebensgefährlich.
»Wunderbar«, wiederholte Ian. »Damit können wir bei jedem Kaufmann
unterkommen. Sogar ein Meister der Goldschmiedekunst würde uns
damit nehmen.«
»Nur dass ich nicht zu einem Kaufmann gehe!« Trix rollte das Papier
zusammen und steckte es wieder in den Sack. »Ich will den Regenten
Hass auf meine Seite ziehen.«
»Aber der Baron hat recht, Trix!«, widersprach Ian erschrocken.
»Wir sollten besser nicht zum Regenten! Damit würden wir alles nur
noch schlimmer machen! Lass uns zu einem Kaufmann gehen, ja? Du
findest eine Stelle und dann empfiehlst du mich. Wir lernen,
verdienen Geld …«
»Hast du eigentlich eine Ahnung, was Ehre bedeutet?!« Trix
schüttelte den Kopf. »Nein, Ian, morgen früh sind wir in Dillon.
Dann gehen wir sofort in den Palast.«
Obwohl Ian das nicht passte, fing er keinen Streit an. »Du musst es
ja wissen«, brummte er bloß. »Aber jetzt pass auf das Boot auf! Mir
fallen nämlich schon die Augen zu. Um Mitternacht weckst du mich!
Dann haust du dich hin, damit du ausgeschlafen zum Regenten gehst,
und ich werde bis nach Dillon aufs Boot aufpassen.«
Trix dachte nicht lange über den Vorschlag nach. Er wollte zwar
schlafen, aber Ian hatte dem Baron so edel und mutig einen Strich
durch die Rechnung gemacht … Außerdem hatte er recht. Besser, er
schlief später und trat würdevoll vor den Regenten.
»Einverstanden«, sagte Trix.
Ian streckte sich auf dem Boden des Boots aus, schob sich den
Proviantsack unter den Kopf und schlief auf der Stelle ein. Trix
korrigierte nur hin und wieder mit einem Ruderschlag den Kurs.
Immer wieder drehte er sich um, aber niemand verfolgte sie.
Entweder hatte der Baron ihnen ihre Flucht verziehen oder er wollte
die Wachposten nicht wecken und ihnen von seiner Schlappe
erzählen.
Wie gut, wenn man einen Freund hat! Selbst wenn er aus einfachen
Verhältnissen stammt. Wie oft war doch echter Edelmut … äh … wie
hieß es in den Chroniken des Ordens
Mannigfaltiger Genüsse? Wie oft war doch echter Edelmut in
einer unansehnlichen Hütte zu Hause, ganz wie sich alter Wein in
einer verstaubten Flasche findet.
Die Ritter des Ordens Mannigfaltiger Genüsse verglichen fast alles
mit Wein. Na gut, manchmal auch mit Bier. In Kämpfen hatten sie
sich kaum ausgezeichnet, dafür aber eine Unmenge erbaulicher
Balladen und Chroniken hinterlassen.
Ian zitterte im Schlaf. Seufzend nahm Trix den Umhang ab und deckte
seinen Knappen damit zu. Eine Zeit lang wärmte die edle Tat ihn
besser als jeder Umhang, am Ende war er jedoch steif vor Kälte. Ein
Mensch von weniger edler Erziehung hätte nun vielleicht zu den
Rudern gegriffen, um warm zu werden. Aber Trix sah auf jede Form
körperlicher Arbeit herab, ganz wie es sich für den Erben eines
Co-Herzogs ziemt. Deshalb zitterte er lieber, bis der Horizont
langsam aufklarte, nahm Ian dann den Umhang wieder ab und weckte
seinen Knappen.
»Ist es schon so weit?«, fragte Ian verschlafen und reckte sich.
»Warum zitterst du denn so? Ist dir kalt?«
Trix schwieg stolz, legte sich hin und stellte fest, dass es
bequemere Plätze zum Schlafen gab. Gestern Nacht war er einfach so
müde, so von seinem Kummer überwältigt gewesen … Aber heute würde
er bestimmt nicht einschlafen. Das war unmöglich auf diesen kalten
Brettern, die sich ihm derart schmerzhaft in die Rippen
bohrten!
Als Trix erwachte, war es schon Tag. Glockenschläge hatten ihn
geweckt. Er setzte sich auf die Bank und sah sich um. Das Boot war
ein Stück aufs Ufer gezogen und lag verborgen in hohem Schilf. In
der Ferne erhoben sich steinerne Türme.
Dillon! Die große Stadt, in der, wie man hörte, einhunderttausend
Menschen lebten!
Wo steckte eigentlich Ian?
»Ian!« Trix stand auf und massierte sich die tauben Beine.
»Ian!«
Keine Antwort.
Wohin war sein Knappe verschwunden?
Nachdem Trix aus dem Boot gesprungen war, entdeckte er am Boden
eine lehmige Fläche, in die jemand Buchstaben geritzt hatte. Damit
die Botschaft nicht zertrampelt wurde, war sie mit Schilfhalmen
umzäunt worden.
Mit wachsendem Staunen fing Trix an zu lesen:
TUHT MIR LEIT! ZU HAS ZU GEHEN IST
DUM!
MACH WAS DU WILST ABER ICH GEH ZU DEN
KAUFLÄUTEN! TSCHÜS!
»Als ob dich jemand nehmen würde!«, brummte Trix. Da ihm die Botschaft nicht antwortete, verrieb er sie mit dem Fuß. Dann fiel sein Blick auf den Sack. Der war deutlich kleiner geworden. »Wir wollten uns doch verbrüdern!«, rief Trix, während er ihn öffnete.
Ein Huhn und ein Brot waren verschwunden. Und natürlich der Brief mit dem Siegel des Barons. Trix kramte in seinen Taschen. Nein, das Geld hatte
Ian nicht angerührt.Er konnte seinem Knappen nicht einmal einen Vorwurf machen – schließlich hatte er, Trix, ja selbst gesagt, dass er das Empfehlungsschreiben nicht bräuchte.
»Dieser Hohlkopf! Hat eben kein edles Blut!«, murmelte Trix traurig. Wenn er nur daran dachte, dass dieser durchtriebene und überhaupt nicht edle Ian innerhalb eines Tages sein … na gut, fast sein Freund geworden war. Oder er war es geworden – und hatte die Freundschaft wieder verspielt.
»Wenn ich wieder auf dem Thron bin, werde ich dich einfangen und auspeitschen lassen!«, drohte Trix dem im Wind raschelnden Schilf. Mit großer Mühe schob er das Boot aus dem Schlamm zurück ins Wasser und ruderte los.
Voller Hoffnung betrachtete er das mit Schilf
und Wollgras bestandene Ufer.
Doch kein Ian weit und breit, der reuevoll um Verzeihung für seine
Flucht bat.
Schweren Herzens brachte Trix das Boot in die Strömung. Die große
Stadt Dillon wartete eine Meile flussabwärts auf ihn.